Gekochtes Rindfleisch ist wie eine Sonate, es besteht aus mehreren Gängen wie die Sätze einer Sonate, die miteinander verwandt sind. Denn nur beim Rindfleischkochen entstehen die anderen Gänge gleich mit. Zuerst kommt die Suppe, die beim Kochen des Rindfleischs entsteht, dann die Hauptspeise, das gekochte Rindfleisch mit seinen Beilagen, am Ende wird aus dem Übriggebliebenen ein Rindfleischsalat gemacht oder was anderes, ein Altwiener Suppentopf, mit einer Fleischeinlage aus dem gekochten Rindfleisch. Es ist auch vergleichbar mit der Sonatenform wie sie Heinrich Birnbach 1827 zum ersten Mal beschrieb:
Exposition – Durchführung – Reprise – Coda
In unserem Fall wäre das dann so:
- Exposition: Rindsuppe vom Mageren Meisl
- Das Hauptthema, das Meisl, stellt sich vor, in verdichteter Form – flüssig – und anderer Tonart – als Suppe.
- Durchführung: Mageres Meisl mit Spinat, geröstete Erdäpfeln, Semmelkren und Zuckerhutsalat
- Das Hauptthema „Mageres Meisl“ kommt mit voller Wucht, dazu gesellen sich ein paar Seitenthemen, die Beilagen.
- Reprise: Altwiener Suppentopf (nächster Tag)
- Noch einmal das Hauptthema, das magere Meisl, in der Suppe. Neue Seitenthemen werden eingeführt: gelbe und rote Karotten, Stangensellerie, Kohlrabi, Petersilwurzel und Nudeln. Damit kommen wir unserem Ziel, 30 verschiedene Gemüsesorten pro Woche zu essen, einen gewaltigen Schritt näher.
Für die Coda habe ich keine Entsprechung gefunden. Außer jemand meint, das Ausschlecken des Tellers mit dem Finger zählt als Coda, weil es gar so köstlich war.
Der Semmelkren schmeckte uns, dieses Seitenthema aßen wir gerne, mehrmals griffen wir zu. Am Ende behielt er das letzte Wort, eine Ausnahme wie beim fünften und letzten Thema in Liszts h-Moll-Sonate, trotz mächtigem Auflehnens des Hauptgedankens, des mageren Meisls. Normalerweise behält das Hauptthema die Oberhand.
Essen, richtig zubereitet, ist Musik für den Gaumen.
Die Sonatensatzform wurde erst beschrieben, nachdem Beethoven, Haydn, Mozart und Schubert sie ausgiebig verwendet hatten. So ist das oft: Die Gesetze, die jene intuitiv aufstellen, müssen andere erst nachspüren, ohne sich darum zu sorgen, daß sie nicht entsprechen.
Die Rindfleischküche ist die Sonatenform der Kochkunst.
„Es ist bezeichnend, daß die Komponisten der Vergangenheit viel eher über „Expression und Gusto“ (Mozart), über Charakter, Atmosphäre, poetische Idee und ähnliches sprachen als über den normalen, musikalisch-handwerklichen Aspekt.“
Alfred Brendel, Nachdenken über Musik, 1976 (dt. 1982), S. 53 der deutschsprachigen Taschenbuchausgabe „Serie Piper Schott“









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